Was für eine schöne Nacht! Ich liege im Schlafwagen, erster Klasse. Draußen rollt die See sanft gegen das Ufer, welches nur wenige Meter entfernt liegt. Noch bin ich nicht wach. Aber die Gedanken an den platten Reifen wecken mich auf. Und um kurz nach 8.00 Uhr ist der Reifen geflickt. Schnell ist alles Werk- und Flickzeug verstaut, die Fahrradtaschen angehängt, und das Rackpack festgezurrt.
Ich schwinge mich aufs Rad und hab schon wieder einen Platten. Also alles von vorn. Guy hatte mir einen anderen Flicken gegeben. Ich probiere ihn aus. Alles ist wieder am Fahrrad verstaut. Ich schließe die Tür, steige aufs Rad und gleich wieder ab. Erneut ist der Reifen platt und mir reißt der Geduldsfaden. Ich nestle einen Ersatzschlauch aus der Packtasche hervor. Der ist schnell eingebaut. Mit Guy’s Standpumpe checke ich erneut den Reifendruck. Diesmal hält der Reifen die eingepresste Luft.
Es ist bereits 11.00 Uhr, als ich endgültig aufbreche. Ich habe Rückenwind, der mich gut vorwärts bringt.
Zwei Stunden später wechselt der Wind. Mal kommt er von rechts, dann wieder von links und in launigen Momenten stemmt er sich frontal gegen meine Schultern. Böig, bellend, beißend. Trotzig fahre ich weiter. Einzig die Sonne brennt den ganzen Tag. Sind es morgens noch angenehme 14°C, steigt die Temperatur im Laufe des Tages stetig und erreicht am Nachmittag vorübergehend 26°C. Der Wind bleibt kühlt.
Die Straße ist den ganzen Tag gut zu befahren. Der Asphalt sauber, weiter Schultern, auf denen es sich gut radeln lässt. Die Strecke entlang der Küste größtenteils flach, mit wenigen moderaten Steigungen.
Wenige Dörfer reihen sich entlang der Küste. Dazwischen eine lockere Bebauung. So das die Küste über weite Strecken in privater Hand und ohne Weiteres nicht zugänglich scheint. Allerdings gibt es in fast regelmäßigen Abständen kleine öffentliche Parkplätze. Gut ausgestattet und fast immer seeseitig gelegen.
Der Autoverkehr ist erträglich. Besonders außerhalb der Ortschaften wird es ruhig. Und so bleibt nur der Wind, mit dem ich streite.
Von den Brücken, die sich regelmäßig über die Täler spannen, habe ich immer wieder schöne Aussichten Richtung Meer. Der Wald hat sich verändert. Laub- und Nadelbäume teilen sich den Raum, durchsetzt von abgestorbenen, stehengebliebenen Baumstämmen, totes Geäst bedeckt den Waldboden. Ihre Kronen, oftmals zerzaust und längst nicht mehr so hoch hinausragend. Aber immer noch voller sattem Grün. Hier und da Windbruch.
Gelegentlich haben Biber einen Damm errichtet und tragen so aus purem Eigennutz zum lokalen Waldsterben bei.
Die Strände sind meistens lang und schmal. Bedeckt von grobem Sand, Geröllen und Gestein. Begrenzt von einen Festlandssockel, an dessen Kante das Meer ständig nagt. Fast überall liegt nacktes, blasses, bleiches, in der Sonne dennoch leuchtendes Treibholz am Strand.
Und gelegentlich sehe ich kleine Hafenanlagen. Ausgangspunkt für die lokale Lobsterfischerei. Sie sind oftmals so klein, dass wenige Boote bereits für Überfüllung sorgen.
Gegenüber der Ile Bobaventure liegt mein heutiges Etappenziel Percé. Ein Quartier habe ich nicht. So geht es erst einmal in den Ort. Auffallend viele Touristen. Percé ist wohl beliebt wegen seiner malerischen Küste. Und wo es malerisch ist, ist es auch teuer.
Ich versuche mein Glück auf drei Campingplätzen zu finden. Platz ist noch da, zwischen unzähligen, teils riesigen Wohntrailern. Der Preis für eine Nacht liegt aber über 40 kanadische Dollar. Das ist mir einfach zu viel. Entgegenkommen zeigt keiner. Geschäft ist Geschäft. Und so stehe ich nach Sonnenuntergang immer noch ohne Quartier auf der Straße.
Da es zwischen Percé und Gasbé verboten ist, am Strand zu schlafen, muss ich eine andere Lösung finden. Im Ort wird das nichts. Also fahre ich auf der Route 132 weiter. Kurz hinter dem Ortsausgang Richtung Norden ein steiler Anstieg, den ich nur schiebend bewältigen kann. Eine kurze Verschnaufpause. Ich schau mich um und entdecke eine Werbetafel.
In der Auffahrt zum Grundstück spreche ich eine strahlende, lachende Marie Julie an. Sofort ist sie bereit. Lebhaft erzählt sie von ihrem kleinen Paradies, das sie sich selbst, eigenhändig erschaffen hat.
Voller Phantasie, voller Lebensfreude, voller Tatendrang führt sie mich durch Atelier und Wohnbereich. Und während ich mein kleines Zelt in malerischer Umgebung aufbaue, bereitet sie mir ein leckeres Abendmahl.
Marie Julie berichtet aus ihrem Leben. Ihr Elternhaus hat sie im Laufe der Jahre nach ihren Vorstellungen umgestaltet und erweitert. So kann sie ihrer künstlerischen Tätigkeit ungehindert nachgehen. Gegen 22.00 Uhr beenden wir beide den Tag. Eigentlich will ich noch etwas an meinem Blog schreiben. Aber ich bin zu müde.
Gute Nacht…