01. November 2024
Um 4.45 Uhr bin ich wach. Leise gehe ich ins Bad und mache mich fertig für den heutigen Tag. 20 Minuten später packe ich meine Sachen zusammen, bringe alles in die Garage und verstaue alles am Fahrrad.
Da das Buffet am gestrigen Abend so reichhaltig war, brauche ich heute morgen kein Frühstück. Um 5.50 Uhr verlasse ich das Haus meiner Gastgeber. Wir hatten uns schon gestern Abend voneinander verabschiedet und vereinbart, dass ich einfach die Tür hinter mir ins Schloss ziehe.
Bist zu Amtrak Station ist es keine zwei Kilometer weit. Als ich am Bahnhof ankomme, wartet der Zug bereits. Eine Zugbegleiterin weist mich freundlich ein, und so ist es ein Leichtes: Das Fahrrad kommt in den letzten Waggon des Zuges und ich begebe mich auf die obere Etage. So früh am Morgen sind nur wenige Sitzplätze belegt und so habe ich freie Wahl.
Es ist noch dunkel, als sich der Zug um 6.10 Uhr in Bewegung setzt. Und auch, als wir Guadalupe erreichen, scheint der Tag noch nicht anbrechen zu wollen.
Immer wieder schaue ich gespannt in die Nacht. Und dann, ganz langsam, verändert sich draußen vor dem Fenster alles. Der Tag bricht an. Erst ist es nur ein schwacher Schein. Doch innerhalb der nächsten halben Stunde wird es hell.
Die Sonne braucht noch ein wenig, um über die Bergkette hinweg zu schauen. Doch als die ersten Sonnenstrahlen über die Berggrate kriechen und die langen Schatten kürzer und kürzer werden, verwandelt das Sonnenlicht die vorbeiziehende Landschaft in ein goldenes Meer. Meine Gastgeber hatten nicht zu viel versprochen.
Während der Zug langsam die Küste entlangfährt und dabei die Vandenberg Air Force Base durchquert, sitze ich am Fenster und genieße die Aussicht. Irgendwo hier in der hügeligen Landschaft zwischen mir und dem Pazifik, wurde vor wenigen Tagen Geschichte geschrieben.
Zum ersten Mal ist es gelungen, die erste Stufe der Weltraumrakete nach ihrem Start, nachdem sich die zweite und dritte Stufe von ihr gelöst hatten, zurückzuführen zur Startrampe. Eine eindrucksvolle technische Meisterleistung.
Entlang der Gleisstrecke gibt es mehrere nummerierte Startplätze, die jedoch vom Zug kaum auszumachen sind. Ich entdecke einen turmhohen Gebäudekomplex. Ob es sich dabei um eine Startrampe handelt, vermag ich nicht zu sagen. Meine Fantasie reicht durchaus, sich das vorzustellen.
Möglicherweise die Vorbereitungen für den 5. November, des Starts einer Interkontinental Rakete vom Typ Minuteman III, die militärischen Zwecken dient.
Ansonsten sind in der vorbeiziehenden, hügeligen Landschaft kaum Gebäude oder Straßen auszumachen. Ich genieße diese Eisenbahnfahrt in vollen Zügen.
Da sich aus dem fahrenden Zug heraus nur unscharfe, teilweise verzerrte Bilder aufnehmen lassen, packe ich mein Smartphone zurück in die Tasche. Und weil sich wohl jedermann einen Sonnenauf- bzw. -untergang vorstellen kann, bleibt mir das Privileg, diesen wunderschönen Moment mit den Augen und dem Herzen in vollem Umfang zu genießen.
Das, was ich hier sehe, brennt sich gleichzeitig viel intensiver in meine Erinnerung ein. Und die werde ich immer bei mir haben. Und ich bin sicher, dass es mir später gelingen wird, angemessen bis eindrucksvoll zu beschreiben, was ich hier gesehen und dabei gefühlt habe.
Schließlich erreicht der Zug Goleta in Santa Barbara, mein Zielort. Da ich das Gepäck nicht vom Fahrrad herunterzuladen brauchte, fällt es mir leicht und braucht nur ganz wenig Zeit, den Zug zu verlassen.
Nachdem ich in meinem Navigationssystem nachgeschaut habe, mache ich mich erst einmal auf den Weg zum Goleta Beach Park. Es ist noch so früh am Tag. Bei meinen Gastgebern bin ich erst gegen später angemeldet. Und so radle ich gemächlich an die Pazifikküste und genieße die Frische am Strand.
Auffallendstes Merkmal des Goleta Beach Parks sind die schlanken, ca. 20 Meter hoch aufgewachsenen Palmen. Hier gibt es einige Picknicktische und sanitäre Anlagen.
Das wissen auch die Obdachlosen, die sich in diesem Bereich ein bescheidenes Zuhause aus Plastikplanen und sonstigen Materialien zusammengebaut haben. Meine Vorstellungen werden wohl nicht ausreichend sein, um auch nur zu erahnen, welche Lebensgeschichten sich hinter diesen Schicksalen verbergen.
Einer sucht das Gespräch mit mir. Er zeigt sich interessiert an meiner Geschichte. Und ich höre zu, was er mir zu erzählen hat. Viel ist es nicht. Er lebt im hier und jetzt. Seine Bleibe, aus der er herausgekrabbelt kam, macht im Gegensatz zu einigen anderen einen ordentlichen Eindruck.
Aus irgendwelchen Gründen hat ihn die Covid-Zeit aus der Bahn geworfen. In dieser Zeit scheint er alles verloren zu haben und mutlos geworden zu sein. Und bis heute hatte er es nicht geschafft, seine Zukunft neu zugestalten.
Andere Obdachlose befinden sich in einem weitaus prekäreren Zustand. Bei einem Obdachlosen habe ich das Gefühl, das er körperlich wie geistig stark eingeschränkt ist. Ob Drogenmissbrauch eine Rolle spielt, kann ich nicht abschätzen.
Er versucht, einen mit „Strandgut“ gefüllten Einkaufswagen über die holprige, durchlöcherte Rasenfläche und die zwischendurch führenden sandigen Wege zu schieben, zu ziehen und zu heben. Dass das nicht gelingt, ist abzusehen. Und so kippt der Einkaufswagen ein ums andere mal um und sein Inhalt breitet sich um den Wagen aus.
Gestikulierend macht sich der Mann daran, den Einkaufswagen auf seine vier Räder zu stellen und alles wieder in dem Wagen einzupacken. Die Vergeblichkeit seiner Bemühungen scheint er nicht zu erkennen. Dieser Vorgang wiederholt sich innerhalb der nächsten halben Stunde mehrere Male, ohne dass der Mann Einsicht in seine Handlung zeigt.
Eine Frau, offensichtlich Besucherin des Parks, eilt ihm zu Hilfe und versucht mit ihm ins Gespräch zu kommen. Und so kommt was kommen muss. Der vollgepackte Einkaufswagen fällt wieder um.
Mit dem Fahrrad fahre ich hinüber zum Pier, der sich einige hundert Meter hinaus ins Meer erstreckt. Vielleicht finde ich auf dem Pier ein ruhiges Plätzchen für mich, wo ich in aller Ruhe genießen kann, was ich sehe.
Aber ich habe die Rechnung ohne das liebe Federvieh gemacht. Je näher ich an das Ende des Piers gelange, umso mehr zeigt sich, dass sich hier bereits eine ganze Vogelkolonie niedergelassen hat: Möven und Tauben fröhlich vereint. Kreischend und Gurrend hocken die Tiere auf der follgekoteten Brüstung.
Wenn auch die Aussicht schön ist, so fühle ich mich hier an diesem Punkt nicht wohl. Und so verlasse ich den Pier und begebe mich wieder in den kleinen Park. Mittlerweile ist es Mittag und ich breche zu meinen Gastgebern auf.
Ich überquere das verschilfte Mündungsdelta, das von den San Pedro, San Jose und Atascadero Creeks gebildet wird. Es wirkt eher wie ein Stillwasser, dass nur bei Regen Wasserzufluss aus den Creeks erfährt. Für die heimische Vogelwelt ist es sicherlich ein Paradies.
Auf zweispurigem Fahrradweg überquere ich den Campus der University of California Santa Barbara. Die Studenten der Universität bevorzugen das Fahrrad gegenüber jedem anderen Transportmittel.
55 % der Studenten fahren täglich mit dem Rad zum Campus und von der gesamten Campusbevölkerung fahren etwa 46 % mit dem Fahrrad. Das macht sich in den gut ausgebauten Radwegen mit ihren Anbindungen an das städtische Radwegenetz deutlich bemerkbar. Ich bin einmal mehr sehr beeindruckt.
Dabei führt der Radweg großzügig durch die parkähnlichen Anlagen mit seinem reichen Baumbestand. Im Bild ein Afrikanischer Tulpenbaum. Immer wieder halte ich an, um die Vielfalt der Natur, die mich umgibt, zu bewundern.
Fast könnte man meinen, ich vertrödel meine Zeit. Dem ist nicht so. Die Eindrücke sind so intensiv, dass ich mir einfach die Zeit zum Betrachten und Genießen nehme.
Die Übergänge des lokalen Radwegenetzes in das „übergeordnete“ Weitwegenetz entlang der Pazifikküste sind fließend. Gelegentlich geben Hinweisschilder darüber Auskunft, auf welchem Weg ich mich gerade befinde.
Die letzten Meter zu meinen Gastgebern fahre ich auf gut ausgebauten, asphaltierten Straßen durch Wohnsiedlungen mit überwiegend Einfamilienhäusern. Fast jedes Haus ist umgeben von einer gepflegten Gartenanlage. Manche Vorgärten schmücken um diese Zeit freundlich- gruselige Figuren, die an Halloween erinnern.
Schließlich erreiche ich das Haus meiner Gastgeber, die mich herzlichst empfangen und aufnehmen. Sie haben bereits das Gästezimmer für mich hergerichtet. Ich bin so froh, dass ich endlich Gastgeber gefunden habe, die mich wenigstens eine Woche lang beherbergen werden.
Ich hoffe, hier meinen kranken, schmerzenden Rücken heilen zu können. Da mein Gastgeber selbst mehrere Rückenoperationen hinter sich hat, zeigt er großes Verständnis für meine Situation und ist mir in jeder Hinsicht behilflich, sei es mit Medikamenten oder bei der Suche nach einem Reparaturservice für mein Fahrrad, das auch der Heilung bedarf.
Jederzeit sind Beide für mich Ansprechpartner und helfen, wo sie können. Um 18.00 Uhr lege ich mich erschöpft ins Bett und werde erst nach 15 Stunden Schlaf wieder aufwachen. Es ist seit Langem die erste Nacht, die ich mehr oder weniger durchschlafe, ohne dass der Rücken jedes Mal schmerzt, sobald ich meine Schlafposition ändere.
Ich bin überglücklich und dankbar, dass ich bei meinen Gastgebern Irma und Mark die nächsten Tage verbringen kann.
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