Ich bin früh wach. Bruce ist bereits in der Küche und hat mir die Zutaten zu einem Frühstück zusammengestellt. Porridge mit Datteln, Mandeln, Rosinen, frischen Blaubeeren, einer Banane, Ahornsirup und selbstgemachter Erdbeermarmelade. Ein Genuss. Schon kurze Zeit später bin ich auf der Straße. Noch sind es angenehme 25°C. Und die Temperaturen sollen heute nochmals Bestwerte erreichen. Bis New Carlisle sind es gut 50 km. Das müsste vormittags zu schaffen sein.
Bereits nach 20 km habe ich die nächste Reifenpanne. Wieder suche ich ein schattiges Plätzchen und wieder bereitet mir die Hausherrin, die ich auf meiner Suche anspreche, große Freude. Sie reicht mir Obst und Wasser, während ich den Reifen flicke.
Die selbstklebenden Pads scheinen nicht so gut zu kleben. Trotzdem versuche ich, die bereits geflickte, jetzt wieder luftdurchlässige Stelle zu flicken. Mal sehen, ob es hält. Eine halbe Stunde später steige ich aufs Rad und fahre mit kräftigem Rückenwind, der den ganzen Tag anhalten wird, gen Osten.
Ein Fluss mündet ins Meer und in seinem Mündungsbereich hat sich einiges an Treibholz angesammelt. Ich komme zügig voran. Die Strecke ist größtenteils flach. In Bonaventura fahre ich einen Bikeshop an und korrigiere den Reifendruck. Der Flicken hält.
Die örtliche Kirche mit ihrem silbernen Dach reflektiert das Sonnenlicht so stark, dass ich die Augen zukneifen muss.
Der kleine Jachthafen mit angrenzendem Campingplatz zieht für kurze Zeit meine Aufmerksamkeit auf sich.
Obwohl bestes Wetter, sehe ich nur wenige Menschen entlang des kilometerlangen Strandes, was mich erstaunt.
Und die letzten Kilometer zu meinem Gastgeber führen mich über Schotterwege und einen langen, hölzernen Bordwalk in Dünenlandschaft zu einem roten Haus. Ich komme von der Seeseite und bin verblüfft bis freudig überrascht. Da hat sich jemand ein Paradies erschaffen.
Das Heim meiner heutigen Gastgeber besteht aus stillgelegten Eisenbahnwaggons, die im Laufe der Zeit modifiziert und deutlich erweitert wurden.
Mein Heim für heute Nacht befindet sich in einem weiteren Waggon. Für mich ist besonders faszinierend, mit wie viel Liebe, Lebens- und Experimentierfreude mein Gastgeber Guy zusammen mit seiner Frau Ann dieses Paradies geschaffen hat.
Die vorhandenen Waggons wurden im Laufe der Jahre immer weiter den persönlichen Bedürfnissen angepasst. Dabei fällt auf, dass das Holz im Wesentlichen nicht weiter behandelt wurde. Keine Tapeten schmücken die Wände. Keine Farben oder Lacke verhindern die Sicht auf die Oberflächen des verwendeten Baumaterials Holz in seiner schönsten Form. Hier darf es sich zeigen und weiterleben. Integraler Bestandteil der Lebenswelt zweier wunderbarer Menschen.
Guy führt mich herum, zeigt mir die Räume und erzählt ihre Geschichten.
Allein die Zuwegung von der Strandseite ist bemerkenswert. Da scheint sich ein zweiter Robinson Crusoe sein Reich geschaffen zu haben.
Guy, erzählt, dass er fast 30 Jahre brauchte, um dieses Juwel zu erschaffen. Nichts wurde gekauft. Alle Zutaten trieb das Meer an Land. Er brauchte nur einzusammeln und mit viel Kreativität zusammenzufügen, was bereits am Zerfallen und Vergehen war. So gibt er Dingen eine neue Funktion und füllt sein Leben mit unglaublich viel Freude.
Während Guy mich herumführt, ist Ann nicht untätig geblieben. Ein aromatischer Begrüßungstee löscht meinen Durst. Und später werden Beide das leckere Abendmahl bereiten. Gegessen wird auf der Terrasse mit Blick aufs Meer. Ich hoffe, es war nicht unhöflich. Aber mein Hunger war groß und der Appetit sein verlässlicher Begleiter. Am Ende ging nur leeres Geschirr zurück in die Küche.
Zwischen alledem hatten wir viel Zeit für Unterhaltung. Und ich stellte fest, dass ihre Sicht auf die Gestaltung ihres Lebens viele Ähnlichkeiten zu unserem Lebenplan aufweist. Das machte es mir leicht und je länger gemeinsame Zeit andauerte, desto vertrauter wurden mir meine Gastgeber.
Beide werden morgen früh aufbrechen zu einer Fahrtadtour. Ein kleines Fachgespräch über die richtige Regenjacke bringt mich einen riesigen Schritt weiter. Ich bin dankbar und kann Guy bei der Montage einer Ortlieb Lenkertasche helfen.
Und am Ende des Tages führt mich Guy noch ein paar hundert Meter durchs Gelände zu seinem weiteren Grundstück und zeigt mir das dortige kleine Holzhaus. Komplett selbstgebaut. In der Bauphase gab es nicht einmal Strom. Heute ist das kleine Häuschen bestens ausgestattet. Guy produziert den Strom selbst. Warm- und Kaltwasser sind vorhanden. Die sanitäre Einrichtung verströmt keinen unangenehmen Duft. An alles wurde gedacht.
Das Haus steht inmitten einer flachen Zone, die in den vergangenen Jahrzehnten an dieser Stelle vom Meer gebildet wurde. Guy kann also sagen, dass die Größe seines Grundstücks im Laufe vergangener Jahrzehnte deutlich gewachsen ist. Und dieses neue Land lässt Guy so sein, wie es die Natur geschaffen hat. Dabei ist er ein ständiger Beobachter, der die stetigen Veränderungen der Landschaft mit großer Begeisterung registriert und alles Geschehen lässt, ohne einzugreifen.
All das begeistert mich und ich könnte Tage an diesem Ort verweilen. Da Ann und Guy bereits um 6 Uhr zu ihrer Fahrradtour starten wollen, verabschieden wir uns bereits heute Abend voneinander. Ein unvergesslicher, wunderschöner Tag geht zuende. Und morgen früh heisst es für mich erneut: Reifen flicken. Ich wette, es ist dieselbe Stelle. Still und dankbar, Gast bei Ann und Guy zu sein, lächele ich in mich hinein. Und bin gespannt, was mir der morgige Tag bringen wird.
Und während hier das Licht erlischt, geht an anderer Stelle ein Licht auf und fährt gemächlich durch diese ruhige Nacht.