Jo's DreamA bike. A tent. A year.

Ein Tag in Témiscouata-sur-le-Lac

Manchmal kommt es anders, als man es sich vorstellen mag. Um 9.00 Uhr breche ich auf. Entlang des Westufers geht es auf der gleichen Bahntrasse zurück, über die ich gestern gen Süden fuhr. Gestern leuchtete der See im warmgoldenen Abendlicht. Heute erlebe ich die Stimmungen im grellen, kühlen Morgenlicht der Sonne. In Temiscouata fülle ich meinen Futtervorrat auf.

Ich bin keine 300 Meter vom Supermarkt, als ich bemerke, dass der hintere Reifen Luft verliert. Es geht schnell und nach wenigen Metern steige ich vom Rad und schiebe es ein paar Meter weiter Richtung Gartenzaun. Alles Gepäck runter. Schnell das Werkzeug ausgepackt und schon bin ich am Reparieren.

Von der anderen Seite nähert sich ein Mann und wir kommen ins Gespräch. Nach ein paar Minuten öffnet er seine Pforte und bietet mir einen sicheren Platz, um das Fahrrad zu reparieren. Er stellt sich freundlich vor.

Vladimir bietet mir etwas zu trinken an. Seine Frau kommt hinzu. Er öffnet seine Gartenpforte, nimmt entschlossen enen Teil meines Gepäcks und läd es in seinem Garten ab. Ich sammle alle Werkzeuge und die Pumpe ein und trage das Fahrrad hinterher.

Kaum habe ich das Fahrrad abgesetzt und widme mich der Reparatur, laden mich beide zu Tisch: Wurst, Käse, Brot und hervorragend schmeckenden, selbst gemachten Rotwein. Etwas später reicht mir seine Frau einen Teller mit acht gekochten Eihäften, lecker zubereitet und garniert. Die Reparatur muss warten.

Seine Frau hat sich inzwischen zu uns gesellt, als Vladimir seine Einladung zur Übernachtung erneut ausspricht. Und ab diesem Augenblick ändert sich mein ganzer Plan für heute …

Ich entscheide, den heutigen Tag gemeinsam mit Lorraine und Vladimir in Témiscouata zu verbringen. Wie ich im Laufe unserer Gespräche erfahre, heißt Lorraine mit vollem Namen Lorrainedamours. Der Name könnte einem Märchenbuch entnommen sein. Aber das ist sicherlich eine andere, wundervolle Geschichte.

Vladimir und Lorraine sind wunderbare Gastgeber. Unsere stundenlangen Gespräche drehen sich ums Altern. Wir sind alle fast gleichen Jahrgangs. Um persönliche Freiheit und was wir daraus machen. Um die Herstellung von Wein. Und um das Leben im Paradies Témiscouta und angrenzendem See.

Dabei ist Vladimir ganz besonders darauf bedacht, dass seine Frau immer am Gespräch beteiligt ist. Da Lorraine nicht so gut Englisch spricht, übernimmt Vladimir geduldig die Rolle des Dolmetschers. Hört ihr zu und übersetzt mir alles, was seine Frau zu unserem Dreiergespräch beiträgt.

Voller Herzenswärme erzählen sie aus ihrem Leben. Vladimirs Lebensreise von Jugoslavien über Italien, Frankreich und schließlich nach Kanada. Zwischen den einzelnen Stationen das Leben in all seinen Facetten. Ein Leben, das sie vor Jahren zum Lake Témiscouta geführt hat. Dem Zuhause von Lorrainedamours.

Und hier haben sie sich ihr kleines Paradies geschaffen. Ihr Zier- und Gemüsegarten grenzt zaunlos an den naturbelassenen Grüngürtel entlang des Sees. Ein Rotflügelstärling hat sich das zunutze gemacht. Lärmend eilt er herbei. Lorraine wirft ihm eine Brotkrume zu. Mit ihr verschwindet er im baumbestandenen Schilf- und Grasgürtel. Nur um nach einer Stunde erneut aufzutauchen und zu betteln. So geht das die ganze Zeit während unseres Aufenthalts auf der Terasse.

Nachdem ich mir unter drei Schlafzimmern das Schönste ausgesucht hatte, kümmerte ich mich erst einmal um die Reparatur des Fahrrades. Ein neuer Schlauch ist nötig. Der alte geflickt und als Reserve verstaut.

Ich hatte erwähnt, dass ich dem Westufer des Sees von Témiscouata aus bis zu seinem südlichen Ende und zurück geradelt bin. Beide laden mich ein, die Westküste des Sees in nördliche Richtung mit dem Auto abzufahren. Ich freue mich, da dieser Abschnitt einige Hügel aufweist, die es mit dem Rad zu erklimmen gilt.

Am Fort Ingall machen wir Halt und besuchen den gleich daneben liegenden Friedhof, auf dem Lorrains Mutter beerdigt wurde. Gemeinsam gehen wir zum Grab. Ein berührender, ganz besonderer Augenblick für uns. Und die enge Verbindung Lorrains zu ihrer Mutter wird spürbar.

Auch in diesem Abschnitt des Sees ist die Bebauung zwar locker und erschwert gleichzeitig den Zugang zum Ufer. Also gehe ich eine Zufahrt hinunter zum See, bei der nicht erkennbar ist, ob sie öffentlich oder privat ist. Kaum dass ich das Ufer erreicht und dort wenige Mezer entlang gelaufen bin, folgt mir ein Anwohner und spricht mich an. Nach kurzem Gespräch willigt er ein und lässt mich ohne Weiters weitergehen. Auch hier, entlang des Ufers, dasselbe Bild. Fast jedes Grundstück hat einen eigenen kleinen Bootssteg, der wie ein Stachel ins klare Wasser ragt.

Auf dem Rückweg fährt Vladimir mit mir noch beim Schlachter vorbei. Ich darf mir aussuchen, was ich möchte und entscheide mich für ein Steak. Zuhause werden Steak und Fleischspieße auf dem Grill zubereitet. Lorraine sorgt für leckere Beilagen. Und dazu gibt es selbst hergestellten Zinfandel mit herrlich ausgewogenem, erfrischendem Geschmack.

Wieder speisen wir auf der Terasse hinter dem Haus. Wieder kommt unser gefiederter Freund vorbei. Und wie schon den ganzen Tag setzen wir unsere Unterhaltung fort. Irgendwann nehmen wir unsere Stühle und gehen ein Stückchen weit in den Garten wo bereits ein kleines Feuer in einem gusseisernen offenen Ofen brennt. Der Rauch vertreibt die Mücken und wir können ungehindert plaudern.

Bei Anbruch der Dunkelheit endet für uns der Tag. Ein Tag, ein Juwel in der Schatzkiste meiner Erinnerungen. Und so werden Vladimir und Lorrainedamours zu einem warmherzigen, liebevollen und bewundernswert Teil meiner Geschichte.

Gute Nacht!

O

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