11. September 2024
Ich bin früh auf. Heute hat Biggi Geburtstag. Und so suche ich einen Platz, wo ich in Ruhe mit ihr telefonieren kann.
Auf mein Rufen im Haus kommt keine Antwort. Unsicher, ob Mitchell oder Kate überhaupt im Hause sind, verlasse ich meine Gastgeber, ohne mich richtig verabschiedet zu haben. Eine kleine, niedergeschriebene Notiz muss heute morgen reichen.
Auf alle Fälle hatte ich ein hervorragendes Quartier, ein ganz leckeres Abendessen, eine die Lebensgeister erfrischende Dusche und spannende Unterhaltung. Also ein Rundum-Sorglos-Paket. Und dafür danke ich meinen Gastgebern von ganzem Herzen.
Für 10.00 Uhr hatte ich mich mit Biggi telefonisch verabredet. Zur Feier des Tages steht ein kleines, besonders leckeres Frühstück vor mir auf dem Tisch. Über eine Stunde tauschen wir unsere Gedanken aus. Ich genieße diese Zeit in vollen Zügen. Und obwohl wir geografisch so weit auseinander sind, habe ich den Eindruck, dass wir uns näher sind denn je.
Mit großer Freude im Herzen mache ich mich gegen 11.30 Uhr auf den Weg. Ich habe verschiedene Gastgeber in Ogden, Utah angeschrieben. Bisher hat keiner geantwortet. So richte ich mich schon darauf ein, am Abend nach einem Quartier suchen zu müssen. Was sich aber nicht bewahrheiten soll, denn später meldet sich doch noch jemand.
Aber erst einmal fahre ich in südliche Richtung raus aus Logan. Und wieder geht es über einen Pass. Ich hatte zuvor im Ort nach dem Zustand der Straße gefragt und man hatte mir bestätigt, dass diese Straße breite Schultern hat, die gern von Radfahrern benutzt werden. Erleichterung macht sich breit und ich trete kräftig in die Pedalen. Die ersten Meilen geht es sogar noch ein wenig bergab. Aber schon bald ändert sich das.
Gleichmäßig geht es für mehrere Meilen bergauf. Ich schalte runter und bewältige den Bergangstieg In den Gängen 1 bis 3. Nach etwa anderthalb Stunden habe ich die Passhöhe erreicht. Das Tal weitet sich wieder und es geht hinab nach Brigham.
So ganz so einfach, wie sich das anhört, ist es jedoch nicht. An diesem Morgen, an diesem Anstieg, macht mir der Wind zu schaffen. Meistens kommt er von vorn. Böig, bockig, mitunter gar zornig zerrt er von allen Seiten an mir. Es ist, als gönne er mir den Pass nicht.
Zweimal ist die Windböe so stark, dass sie mich trotz Bergabfahrt zum Stehen bringt. Andere Male presst sie mich bedrohlich nah an die durchgehende weiße Linie, die mich von der Fahrbahn trennt. Und dann sind da noch Massen an LKW’s unterwegs. Mal erzeugen sie einen Sog, der mich regelrecht mitreißt. Dann wieder hat sich die gesamte, vor dem LKW aufgestaute Luft gegen mich verschworen.
Alles in allem ist es mühsam. Doch in den unteren Schaltgängen meistere ich den Passübergang sehr gut. Vor Tagen hatte mir Bryce erzählt, dass es zwischen Brigham, Utah und Ogden eine Straße gibt, an der entlang lauter Obststände aufgebaut sind.
Diese Straße verläuft parallel zum Highway, den ich bisher benutzt habe. Zwar gibt es in der Tat viele Obststände, an denen Pfirsiche Nektarinen, Birnen, Kürbisse, Gemüse und Kartoffeln angeboten werden. Und die Obstände sind nur wenige Meter von der Fahrbahn entfernt aufgebaut.
Dafür hat diese Straße aber keine Schultern und ich muss auf der Fahrbahn fahren. Auf die Dauer ist das sehr anstrengend. Daher entscheide ich mich, bei nächster Gelegenheit wieder auf den Highway zu wechseln.
Und dann passiert mir das Mißgeschick: ich komme von der Straße ab. Nur wenige Meter. Aber das reicht für einen Platten im Vorderrad. Nachdem ich meinen Frust in den Wind gebölkt habe, mache ich mich an die Reparatur. Jedoch gelingt es mir nicht, das Loch zu finden.
Und während ich noch auf der Suche nach dem Schaden bin, hält ein Fahrzeug neben mir und der Fahrer spricht mich an. Ich schildere ihm mein Mißgeschick, worauf er mir anbietet, mich von der Straße bis nach Ogden, Utah mitzunehmen. So komme ich nach Ogden.
Erst überlegt er, mich bei einem Walmart abzusetzen. Dann entscheidet er sich anders und nimmt mich mit zu sich nach Haus. Er ist KFZ-Mechaniker und hat eine voll ausgestattete Werkstatt. Auf seinem Hof mache ich mich an die Reparatur. Nach dem ersten Flicken kommt der zweite.
Dann der Dritte, Vierte und Fünfte – im Vorderrad. Beim Check des Hinterrades sieht es nicht besser aus. Am Ende sind es insgesamt sieben Flicken. Und während ich fleißig flicke, pult der Mann die Dornen aus dem Mantel.
Anschließend zeigt er mir im Garten, welche Pflanze dafür verantwortlich ist: der Burzeldorn, auch Erdsternchen oder Erdstachelnuss genannt, eine in dieser Gegend weit verbreitete Pflanze.
Über der Reparatur ist es spät geworden. Um 18.00 Uhr fotografiere ich die Sonne über mir. Im Großraum Los Angeles gibt es einen großen Waldbrand, dessen Rauch sich über Ogden legt.
Immer dunkler wurde in den letzten Stunden der Himmel.
Jetzt erst fällt mir auf, dass ich meine eigentlichen Gastgeber Emily und Christian noch gar nicht benachrichtigt habe. Im darauffolgenden Telefongespräch bietet mir Emily an, mich abzuholen. Das ist die einzige Möglichkeit, mein heutiges Ziel Layton, südlich von Ogden, zu erreichen.
Ich willige ein und eine halbe Stunde später holt mich Christian mit seinem Pickup-Truck ab. Meinem Helfer danke ich von ganzem Herzen. Ich hätte mich gerne noch ein bisschen mit ihm unterhalten. Und vielleicht hätte ich ihn um ein Quartier bitten können. Aber ich hatte Emily bereits vor Stunden zugesagt. So ist es ein kurzer Abschied, der einen tiefen, bleibenden Eindruck in mir hinterlässt.
Von Ogden nach Layton sind es noch 20 Meilen. Das hätte ich bei diesen Lichtverhältnissen niemals geschafft. Mit dem Auto ist es ein Katzensprung. Es ist schon nach 20.00 Uhr, als wir bei Emily eintreffen. Emily zeigt mir das Zimmer und erklärt kurz die wichtigsten Dinge. Ich nehme ein Duschbad. Anschließend kümmere ich mich um die Wäsche, die noch gewaschen werden muss.
Gegen 22.00 Uhr ist der Tag zu Ende. Und ich kann sagen: Es war ein toller Tag. Happy Birthday!
Lieber Jochen, ich bin froh, Deine Erfahrungen zu lesen, wie viel Hilfsbereitschaft und Offenheit Du als Fremder in den USA erfährst. Hatte doch mein nur von Medien geprägtes Bild die Idee eines Amerikaners, der waffenstarrend sein Grundstück verteidigt, geprägt, und ich bin froh, dass die Realität auf jeden Fall ganz oft eine andere ist. Und das gilt hoffentlich überall auf der Welt, dass der unmittelbare Kontakt von Mensch zu Mensch, die wir ja am Ende alle gleich sind, friedlich sein kann.
Und Deine Fotos! Im nächsten Leben solltest Du hauptberuflich Fotograf sein. Ich muss dir nicht sagen, dass mir Deine Pferdefotos vom Rodeo ganz besonders gefallen haben. Herzlich und mit Dir auf dem Weg, Ruth
Liebe Ruth,
als ich von dem Rodeo erfuhr, habe ich in der Tat sofort an dich gedacht. Leider habe ich nur einen ganz kleinen Teil der Veranstaltung mitbekommen. Was mir jedoch wohlwollend auffiel, war die Teilnahme von Frauen in dieser von Männern geprägten Sportart. Und die verrichteten den Job genau so gut. Ich war beeindruckt.
Bezüglich der Gastfreundschaft. Hat sich in den vergangenen einundvierzig Jahren nichts geändert. Die Politik mag sich geändert haben. Die Technik ist weiter fortgeschritten. Aber der unmittelbare Kontakt von Mensch zu Mensch scheint eine nie versiegende Quelle friedlichen Zusammenlebens zu sein. Und so bin ich glücklich, die Menschen so erleben zu dürfen, wie sie sind.
JO